Der durchgekaute Mensch

Jeden Tag einen neuen Kaugummi kauen, diesen aufheben und in Spirituosen einlegen, Tag für Tag, Montag bis Sonntag. Aber warum?

VITA CONTEMPLATIVA Spirits-Gum-Cocktail, Montag

Die Fotoserie Vita Contemplativa der Künstlerin Jing Song ist ein wunderbar poetischer und zugleich philosophischer Kommentar über das moderne Leben in der Stadt.

Es begann mit einer simplen Beobachtung im Alltag: die vielen Kaugummireste, die auf den Straßen und Gehsteigen kleben. Es sind so viele, dass die Stadt sie nicht mehr aufnehmen bzw. absorbieren kann. Es sind auch so viele Menschen, die keinen Platz, keine Ruhe mehr haben. Und es gibt so viele Eindrücke und Aufgaben, die der moderne Mensch nicht mehr bewältigen kann.

Dienstag

Diese Fotoarbeiten handeln also von Rastlosigkeit, Erschöpfung und Selbstausbeutung. Das Kauen und Verformen von Kaugummi steht dabei symbolisch für die rastlose urbane Aktivität, für die dauernde Suche nach Mehr, für die permanente Arbeit – eine Dynamik im negativen Sinn, die oft zu Selbstbetäubung führt. Man spürt sich selbst nicht mehr. Wie der Kaugummi in der Flüssigkeit so driftet der moderne Mensch durch ein Leben voll von Anforderungen und Ansprüchen.

Mittwoch

Die Luftbläschen verbinden den durchgekauten, erschöpften Kaugummi/Körper mit seiner Umgebung. Und sie halten ihn zusammen. Aber sie sind vergänglich, alle paar Augenblicke zerplatzt eines dieser Bläschen. Die stützende Kraft für den modernen Menschen ist also eine sehr fragile.

Donnerstag

Der Ausweg liegt in einer sogenannten Heilenden Müdigkeit. Damit ist ein Loslassen gemeint, ein sich in eine kontemplative Versenkung begeben. Ein zeitgeistiger Begriff dafür lautet übrigens JOMO, Joy of Missing out. Damit ist das Vergnügen bzw. die Gelassenheit gemeint, etwas absichtlich zu versäumen.

Freitag

Diese Art von Müdigkeit soll den von Leistung getriebenen modernen Menschen zu einer Vita Contemplativa inspirieren. Damit ist hier allerdings kein eremitisches Dasein in Hinwendung zu Gott gemeint. Sondern ein sich Lösen aus der Selbstbetäubung. Man verwirklicht eine Lebensgestaltung, die auf Mit-Menschlichkeit, Muße, Souveränität und den freien Willen setzt. Und das Tag für Tag.

All das steckt in diesen Kaugummis.

PS: Diesen Text habe ich schon vor einiger Zeit für die heutige Publikation als Posting vorbereitet. In Zeiten des Coronavirus-bedingten Slowdown erhält er, wie ich finde, eine ganz neue Aktualität.


Infos & Quellen
*Zur Künstlerin: Jing SONG.
*Die siebenteilige Fotografie-Serie VITA CONTEMPLATIVA wurde unter anderem im Rahmen der documenta14 (2017) in Athen gezeigt.

Alle Bilder:
*Jing SONG. Courtesy of the artist.

 

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