Taverne zum Heiligen Gaumen. Futuristische Küche #2

Wie in Teil #1 zur Futuristischen Küche bereits erzählt, forderten die italienischen Futuristen Anfang des 20. Jahrhunderts eine umfassende Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Und weil sie einen direkten Zusammenhang zwischen Ernährung und politischer Gesinnung sahen, musste diese Revolution auch Lebensmittel, Essen und Mahlzeiten umfassen.

Die Futuristische Küche
Die Futuristen verharrten nicht in theoretischen Überlegungen. Im Gegenteil: sie setzten ihre politischen und philosophischen Gedanken auch ganz konkret um. Da sich die Menschen bis jetzt wie „wie Ameisen, Mäuse, Katzen und Ochsen ernährt“ haben, entwickelten die Futuristen die aus ihrer Sicht erste „menschliche Küche“ (nasce con noi futuristi la prima cucina umana).

Was (nicht?) zusammengehört
Neben der Stärkung von Kampfgeist & Patriotismus sollten die neuen Lebensmittel und Speisen insbesondere die traditionellen „tief verwurzelten Gewohnheiten des Gaumens abtöten“.

Der „mittelmäßige Alltag in den Gaumenfreuden“ sollte aufgehoben werden und was bisher ohne Grund bzw. nur durch „Vorurteile“ getrennt war, wurde nun zusammengefügt. Also zum Beispiel Hammelfilet mit Garnelensauce, Kalbsnuss mit Absinth, Banane und Greyerzer Käse oder Hering in Erdbeergelee.

Es lebe die Chemie!
Das letztliche Ziel in der Futuristischen Ernährung lag darin, die Mahlzeiten von Volumen und Gewicht zu befreien. Aufgabe der Chemiker war es daher, „Nährstoff-Äquivalente“ zu erfinden, also Pillen oder lösliches Pulver, eine Art Astronautennahrung.

Filippo Tommaso Marinetti wollte letztlich eine Loslösung der menschlichen Ernährung von konkreten Lebensmitteln bzw. Speisen, weg von Gerüchen und vom Kochen, überhaupt von allem, was dazu gehört.

Jedoch wurde von den Futuristen klargestellt, „dass es notwendig ist, Fleisch und Wein gegen jeden Angriff zu verteidigen, bis die Chemie synthetische Substanzen schafft, die die Stärken von Fleisch und Wein haben.“

Künstler als Köche
Und zwar nicht als Hobby-Köche! Essen bzw. Gastronomie und Kunst sollten direkt miteinander verbunden werden, ja, das Kochen selbst – solange es noch notwendig war oder wenn ein Event geplant war – wurde zu einer Kunstform erhoben, gleichgestellt in seiner Bedeutung mit Literatur, Malerei, Theater, Film oder Musik. Denn die Kunst in all ihrer Vielfalt sollte ein Teil des normalen Alltags sein. Umgesetzt und serviert wurde das Ganze erstmals in der …

Taverne zum Heiligen Gaumen
Die Taverne, eine Art Tempel der futuristischen Küche, öffnete am 8. März 1931 ihre Pforten. Adresse: Via Vanchiglia 2 in Turin. Sie trug den klangvollen Namen La Taverna Futurista del Santopalato, also in etwa Die Futuristische Taverne zum Heiligen Gaumen. Und diese musste auch optisch das genaue Gegenteil einer traditionellen italienischen Taverne oder Trattoria sein.

Nachdem der Futurismus der Technik und Industrie-Ästhetik verpflichtet war, wurde Aluminium mit seinem metallischen, technischen und klaren Glanz das Material der Wahl. Das Innere des Restaurants wurde entsprechend gestaltet: Minimalistisch in der Einrichtung, beinahe ohne Farben, gänzlich ohne textile Materialien, Wände und Fußboden komplett mit Aluminium ausgekleidet. Auch die Speisekarten waren folgerichtig aus Aluminium. Natürlich waren herkömmliche Tischdecken völlig unpassend, die Tische waren daher mit Alufolie bedeckt, die Teller aus Metall – und der Wein wurde in Benzinkanistern serviert.

Die Gäste saßen in einer Art nachgebautem Flugzeug. Gekippte Sitze und Vibrationen sollten diesen Eindruck verstärken, auch den Appetit anregen sowie auch an den vorgefassten Meinungen der Gäste rütteln.

Die Aero-Banchetti
Die mittlerweile legendären „Luft-Bankette“ der Futuristen waren ihr größter künstlerisch-kulinarisch-gastronomischer Erfolg. Sie fanden in einigen Städten Europas statt, angeblich sogar in der Türkei und in nordafrikanischen Ländern.

Auch das Eröffnungsdinner für die Taverne am 8. März 1931 war ein Aero-Banchetti. Zwischen Mitternacht und vier Uhr früh wurden 14 Gänge serviert, beispielsweise eine Solare Brühe, das berühmte Stahlhuhn bzw. ein Gericht namens Äquator und Nordpol.

Die Luftnahrung sollte mit allen Sinnen wahrgenommen werden: das Essen wurden auf ungewöhnliche Weise arrangiert, es gab Musik zwischen den Gängen, bei manchen Gerichten versprühten Kellner Parfum und einige Speisen wurden ohne Besteck bzw. Hände gegessen werden – dazu musste man sein Gesicht im Gemüseteller vergraben, um das Grün auf Gesicht und Lippen spüren zu können, bevor man es schmeckt.

Damals in Bologna …
Die Chronik der italienischen Stadt Bologna beschreibt eines dieser Aero-Banchetti vom 12. November 1931: wie üblich Alufolie als Tischdecke und Geschirr aus Metall sowie ein großer Tisch in Form eines Flugzeugs, das von einem Propeller überragt wird. Um den Appetit der Gäste anzuregen, röhrte im Nebenraum der Motor einer Harley Davidson.

Als Aperitif bekamen die Gäste einen Cocktail auf Bier- und Schokoladenbasis, als Antipasti wurde Aeroporto piccante, also würziger Flughafen serviert: ein Gericht mit sogenanntem russischem Salat (konnte bisher noch nicht herausfinden, was genau das ist), Orangen und „rosa“ Butter. Und auch ein Weckruf an den Magen sowie das Exaltierte Schwein wurden aufgetischt.

Marinetti deklamierte dabei: „Lasst uns auf achttausend Meter fliegen: Spüren sie, wie das den Magen nährt und begünstigt.“ Und die Gästeschar forderte lauthals: „Wir wollen Treibstoff.“ Lambrusco wurde gepriesen, in Benzinkanister gefüllt und ausgeschenkt. Ich hätte wahnsinnig gerne eines dieser Aero-Banchetti selbst erlebt!

Ein wesentliches kulinarisches Element der Futuristischen Küche waren essbare Skulpturen – die bekannteste davon ist zweifellos die (das?) sogenannte Carneplastico: eine Skulptur aus Fleisch und Wurst mit elf verschiedenen Gemüsen aus allen Regionen Italiens gefüllt, überzogen mit einer dicken Schicht aus Honig – eine Art «dynamisch-futuristischer Hackbraten», also Kunst zum Verspeisen.

Weitere Rezepte, zum Beispiel für die Intuitive Vorspeise, ein Simultan-Eis oder das Stahlhuhn, gibt es dann im letzten Teil, die Futuristische Küche #3. Denn da das futuristische Essen auch in der alltäglichen Küche praktiziert werden sollte, gaben die Futuristen im Jahr 1932, ein Jahr nach der Eröffnung der Taverne, ein eigenes Kochbuch heraus – voll mit schrägen Rezepten und Empfehlungen für kreative Dinners.

ArtFood: Essen mit Kunst.


Infos & Quellen
*Teil #1 zur Futuristischen  Küche: Wie alles begann.

Bilder:
*Titelbild: Enciclopedia Digitale di Culture e Politiche Alimentari.   
*Aufschnitt: Albrecht Fietz, Pixabay. 
*Pillen: Antonios Ntoumas, Pixabay. 
*Plakat: Storia e Storie di Torin.  
*Köche sw/w: Wikipedia
*Kohl: Ulrike Leone, Pixabay.
*Arkaden Bologna: gustavozini, Pixabay.
*Carneplastico: Enciclopedia Digitale di Culture e Politiche Alimentari

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