Das froschähnliche Tier, das zwischen seinen Schalen hockt
Ich sag´s lieber gleich: Ekelige Austern schmecken noch am ehesten, wenn man sie in New York mit Käse überbacken isst, dazu Ketchup und einen kräftigen Roséwein.
Und da geht´s nicht nur mir so – auch Anderen gruselts, wie die folgende Geschichte zeigt. Wer also sehr gerne Austern isst oder wem´s schnell gruselt: weiterlesen auf eigene Gefahr 🙂
Einer der bekanntesten russischen Schriftsteller, Anton Tschechow, veröffentlichte im Dezember 1884 eine Kurzgeschichte mit dem lapidaren Titel Die Austern – und diese Geschichte die geht so:
Ein männlicher Erzähler erinnert sich an eine Begebenheit aus seiner Kindheit in Moskau. Sein Vater (über die Mutter erfahren wir nichts) ist offensichtlich so bettelarm, dass sie sich weder Winterkleidung, noch Strümpfe und schon gar nicht genug zu essen leisten können.
Seit fünf Monaten sind sie nun in der Hauptstadt und fünf lange Monate hat sich der Vater erfolglos um Arbeit bemüht – nun steht er mit seinem Sohn auf der Straße, um zu betteln.
An einem regnerischen Tag im Herbst wird dem Jungen vor lauter Hunger ganz übel, seine Beine knicken ein und beinahe verliert er das Bewusstsein. Wie es der Zufall will, stehen beide in diesem Moment vor einem Restaurant mit einem blendend weißen Plakat im Schaufenster.
Hypnotisch davon angezogen, versucht der Junge die Aufschrift zu entziffern: „Austern“. „Ich lebe genau acht Jahre und drei Monate auf der Welt, aber es ist ein seltsames Wort.“ Also fragt er seinen Vater, was das sei.
Dieser hört ihn jedoch nicht, er ist damit beschäftigt, seine Scham zu überwinden und Passanten auf der Straße um Geld zu bitten. Als der Junge seine Frage etwas lauter wiederholt, antwortet der Vater: „Das ist ein Tier, es lebt im Meer.“
Und da stellt sich der Junge das unbekannte Tier als ein Wesen zwischen Fisch und Krebs vor. Sogleich denkt er auch an die Zubereitung, an duftende Gewürze wie Lorbeer, an verschiedene Gemüse, an den Duft von gebratenem Fisch und Krebssuppe.
So stark ist sein Vorstellungsvermögen, dass er anfängt Kau- und Schluckbewegungen zu machen „als läge in meinen Mund tatsächlich ein Stück von diesem Meerestier“.
Als sein Vater jedoch weiter erklärt: „Man isst sie lebendig, wie die Schildkröten haben sie Schalen“, verfliegt jegliche Illusion. Wie ekelhaft. „Ein froschähnliches Tier, das zwischen seinen Schalen hockt, schaut mit großen glänzenden Augen hervor und lässt seine widerwärtigen Kiefer spielen. Bei lebendigem Leibe verzehren es die Erwachsenen mitsamt den Augen, Zähnen und Pfötchen. Und das Tier stößt in seiner Pein und Qual piepsende Laute aus und versucht noch, den Esser in die Lippen zu beißen.“
Doch der Hunger des Jungen ist so groß, das selbst dieses Grausen ihn nicht davon abhalten kann, sich vorzustellen, wie er diese Austern verspeist – einfach, weil er endlich essen muss, um nicht umzufallen vor tagelangem Hunger.
„Schrecklich sehen mich die Austern an und widerlich, grauslich, ekelerregend, aber ich will essen. Ein Schrei lässt sich aus meiner Brust: „Austern, gebt mir Austern!“ Das bringt zwei vorübergehende, wohl gekleidete Herren mit Zylinderhut zum Lachen – und sie erlauben sich den Spaß, den hungernden Jungen ins Gasthaus zu bringen.
Eine neugierige Schar an Gästen schaut ihm nun beim Essen zu: „Ich esse an einem Tisch sitzend gierig etwas Glitschiges, Gesalzenes, das nach Feuchtigkeit und Schimmel riecht. Ich esse es gierig ohne hinzusehen oder es zu untersuchen. Mit geschlossenen Augen habe ich das Gefühl, glänzende Augen, Scheren und spitze Zähne zu sehen.“ Auch isst er die Schale, weil er es nicht besser weiß. Wiederum Gelächter bei den Gästen.
Daheim eingelangt, leidet er nach diesem ungewohnten Mahl an fürchterlichem Durst, an Sodbrennen, er hat einen unglaublich seltsamen Geschmack im Mund und kann nicht und nicht einschlafen. Und auch sein Vater ist nach diesem Erlebnis ruhelos: unruhig und nachdenklich geht er stundenlang in der Wohnung auf und ab und fragt sich, warum er die Herren, die so viel Geld für die Austern ausgegeben hatten, nicht um ein paar Rubel hatte bitten können.
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Diese Geschichte ist typisch für Anton Tschechow. Er zeigt meist lapidar einen Ausschnitt aus dem Leben, ohne die aufgeworfenen Fragen zu beantworten, ohne ein konkretes Ende oder schnelle Problemlösungen zu präsentieren. Und immer geht es um die russische Lebenswirklichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts, und meistens gibt es keinen Alltag ohne Leid – egal ob in der gehobenen Gesellschaft oder in den ärmsten Bevölkerungsschichten.
Tschechow starb im Alter von 44 Jahren an Tuberkulose während einer Kur im Schwarzwald-Kurort Badenweiler. Sein Leichnam wurde per Eisenbahn zurück nach Moskau überführt – angeblich trug der Güterwaggon die Aufschrift „Für Austern“.
Das Beste an Austern ist meiner Meinung nach ja der Champagner oder gerne auch Crémant, den man üblicherweise dazu trinkt und der den Gaumen sprudelnd erfrischt. Dazu beim nächsten Mal mehr 🙂 – und zwar hier: Weil dieser Rausch keinem anderen gleicht.
ArtFood: Essen mit Kunst.
Infos & Quellen
*Wer diese Kurzgeschichte hören will, wird beispielsweise auf YouTube mehrfach fündig.
Bilder:
*Titelbild: Vicki Hamilton, Pixabay.
*Austern gegrillt: Sharon Ang, Pixabay.
*Illustration: Wikipedia.
*Austern mit Zitrone: Jean Louis Tosque, Pixabay.
*Fischsuppe: Ирина Александрова, Pixabay.
*Drei Austern: Yung-pin Pao, Pixabay.
*Auster: Mogens Petersen, Pixabay.
*Austern: Hiroaki Hasegawa, Pixabay.
*Austernschale & Muschel: Hans, Pixabay.
*Anton Tschechow: Wikipedia.
*Champagner: Myriams-Fotos, Pixabay.
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