Lustvoll an Sechsbeiniges denken

Die Arbeit am heutigen Posting hat … lange gedauert. Weil das Thema auch beim Lesen … wirklich ekelig war. Und auch das Aussuchen von Fotos war … herausfordernd. Aber ich wollte es wissen und so wird es heute hier bei ArtFood serviert.

Es kreucht & fleucht und manchmal fliegts
Knusprige Grillen? Würzige Wasserwanzen? Geröstete Skorpione am Spieß? Sauer marinierte Ameisen? Genau, es geht um Insekten als Lebensmittel.

Das mit dem Insekten essen ist so eine Sache. Anders als beispielsweise in Laos, Thailand oder Mexiko waren Insekten in Europa nie Bestandteil der Esskultur. Angeblich war jedoch in Deutschland bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Suppe mit gerösteten Maikäfern üblich – nun gut, wer das genauer wissen will, bitte den Link zum Rezept am Ende anschauen.

Umwelt! Gesundheit! Welthunger!
Was mir beim Recherchieren und Lesen aufgefallen ist: das Pathos, mit dem für Insekten als Lebensmittel geworben wird. Viele Lösungen gleichzeitig sollen damit erreicht werden können: Klimafreundliche Produktion, Ersatz für tierisches Protein, weniger Massentierhaltung, Kampf gegen den Welthunger. Und aufgrund ihres Gehalts an Omega-3-Fettsäuren und B-Vitaminen gelten sie zudem als gesundes Lebensmittel.

Allergie? Energie? Futter?
Etliche Fragen sind allerdings derzeit noch nicht geklärt. Aufgrund der nahen Verwandtschaft von einigen Arten mit Krustentieren sind sogenannte Kreuzallergien möglich. Personen, die auf Meeresfrüchte allergisch sind, haben ein erhöhtes Risiko, auch auf einige der Insekten allergisch zu reagieren.

Unklar ist auch noch, wie eine industrielle Massenproduktion dieser Würmer, Käfer, Heuschrecken und anderer Insekten genau aussehen wird. Mehlwürmer beispielsweise gedeihen nur in warmer Umgebung. Es ist mit entsprechendem Energieverbrauch zu rechnen. Die notwendige Energie für die Erzeugung von 1 kg Protein ist bei Insekten höher als bei Hühnern, ähnlich wie bei Schwein, aber niedriger als bei Rind.

Mögliche Folgen einer Massenproduktion sind auch hier zu bedenken. Abermillionen von Tieren auf engstem Raum: können hier auch Krankheiten ausbrechen wie in der Massentierhaltung von Schweinen oder Hühnern? Müssten hier auch Medikamente dem Futter zugesetzt werden? Welche Futtermittel können in entsprechender Menge eingesetzt werden? Und in welcher Qualität? Hoffentlich nicht wieder nur Reste und Abfälle aus der Lebensmittel- bzw. Futtermittelindustrie oder billige Substrate.

Vernunft <-> Kultur
Jedenfalls sind westliche Konsumenten und Konsumentinnen bisher nicht und nicht davon zu überzeugen, regelmäßig Insekten zu verspeisen – der Ekelfaktor hält sich hartnäckig. Die bisherigen Präsentation von Insekten als Speise konnten da soweit noch keine Abhilfe schaffen. Und dagegen helfen auch vernünftige, aber letztlich abstrakte Argumente nichts. Ebenso wenig hat bisher geholfen, auf bereits vorhandene Produkte aus Insekten hinzuweisen. Beispielsweise Bienenprodukte wie Honig oder Gelee royale, roter Farbstoff aus Schildläusen in Süßigkeiten, Würmer in Tequilaflaschen.

Unsichtbar
Weil das mit den Insekten in westlichen Ländern so gar nicht klappen will, werden deren Produkte in Lebensmitteln gut versteckt. Insektenmehl in Burgern oder Energieriegeln – unsichtbar. Proteinpulver aus Fruchtfliegen – unsichtbar. Mehl aus diversen Maden in Pasta oder Cookies – unsichtbar. Und daher auch un-schmeckbar.

Wobei Insekten in Lebensmitteln in gewisser Weise unvermeidbar sind: in Früchten, Getreide und Gemüse, aber auch in Schokolade aus den Kakaobohnen. Die US-amerikanische Behörde für Lebensmittelsicherheit erlaubt daher „30 Insektenfragmente pro 100g“ beispielsweise in Erdnussbutter.

Wie geht also Insekten-Genuss?
Was bleibt, wenn man abstrakte Ermahnungen, moralische Argumente, verstecktes Insektenmehl oder Mutproben mit rohen Würmern in TV-Shows beiseite lässt?

Ein vielversprechender, nämlich kulinarischer Ansatz. Es geht darum, Insekten als eigenständiges Lebensmittel anzuerkennen. Und mit den jeweils ganz eigenen kulinarischen Besonderheiten zuzubereiten. Übrigens gibt es an die 2000 essbaren Arten, daher meint Andrew Mueller: „… halten Insekten eine schier endlose kulinarische Diversität bereit, die viele (neue) sinnliche Geschmackserfahrungen ermöglicht.“

Es braucht also Köche und Köchinnen, die Insekten sichtbar lassen, diese sogar kulinarisch besonders inszenieren, in speziellen Gerichten verarbeiten, eigene Rezepte dazu entwickeln, mit unterschiedlicher Würzung experimentieren.

Die kulinarischen Fragen könnten also lauten, ob Ameisen mit Chili oder mit Zitrone besser schmecken, wie lange Grillen in Soja mariniert werden sollen, ob die Mehlwürmer gekocht oder gegrillt besser schmecken.

Vielleicht so …
Produkte wie ein Insekten-Lolli oder die Dschungelade mit knusprig gerösteten Mehlwürmern – als Vollmilchschoki oder in der Variante Zartbitter – kokettieren nur dem Faktor Mutprobe bzw. Ekel.

Besonders gelungene kulinarische Varianten sehen anders aus – beispielsweise wie das Menü, das das Nordic Food Lab im Jahr 2013 für das Food- und Insekten-Festival Pestival in London entwickelt hat. Das neun-gängige Menü stand unter dem Motto „Exploring the Deliciousness of Insects“, also die Köstlichkeit von Insekten erkunden.

Die ganze mögliche Vielfalt wird ausgebreitet: Gin aus Waldameisen. Lakritze mit Samen, Früchten, Kräutern und Ameisen. Wachsmotte mit Morcheln. Brühe aus Hausgrillen. Ein Stout-Bier aus Mehlwürmern. In Butter geröstete Heuschrecken mit wildem Knoblauch. Irgendwas mit den Waben von männlichen Bienen (Drohnen). Und als Dessert: Eiscreme unter anderem mit Bienenwachs und Honig-Kombucha-Sauce.

Lustvoll?
Die Kluft zwischen Genuss und Insekten ist derzeit für mich noch groß und breit und tief wie der Marianen-Graben (der ist 11 km Meter tief und 2400 km lang 🙂 ). Mein persönlicher Zugang könnte vermutlich am ehesten über ein kulinarisches Erlebnis wie das erwähnte Menü von Nordic Food Lab erfolgen: Insekten also als eigenständige Food-Spezialität zuzubereiten und nicht als Mutprobe. Die Kreativität von Köchinnen und Köchen ausspielen abseits von Sensationsgier. Neue Formen der Ernährung für das 21. Jahrhundert entwickeln, die die bisherigen Essgewohnheiten kulinarisch mitdenken. 

Es wird bei mir – und vielleicht auch bei vielen anderen – also noch etwas dauern, bis es „irgendwann ganz automatisch [passiert], dass man lustvoll an Sechsbeiniges denkt, wenn man Hunger bekommt.“

ArtFood: Essen mit Kunst.

PS: Was hier und in vielen Publikationen salopp als „Insekten“ bezeichnet wird, umfasst in Wirklichkeit eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten, wie beispielsweise: Mehlwürmer, Grashüpfer, Mistkäfer, Bienen, Ameisen, Termiten, Seidenraupen, Grillen, Zikaden, Mücken, Skorpione etc.

PPS: Getrocknet und in Pulverform sind in der EU seit 2021 bisher vier Insektenarten zugelassen: Mehlkäfer, Wanderheuschrecke, Hausgrille sowie der Glänzendschwarze Getreideschimmelkäfer. In tierischen Futtermitteln sind Proteine aus Insekten schon länger zugelassen.


Infos & Quellen

*Überschrift & Zitate entnommen aus: Andrew Mueller, „Wie schmecken eigentlich Insekten?“, EPIKUR – Journal für Gastrosophie, 01/2019.
*Maikäfersuppe: Wikipedia.
*Pestival: Website. https://www.pestival.org
*NOMA: Website. https://nordicfoodlab.org
*Im Zuge der Arbeit des Nordic Food Lab mit Insekten ist ein Dokumentarfilm über Insekten als Lebensmittel weltweit entstanden: Andreas Johnsen, “BUGS. A gastronomic adventure with Nordic Food Lab: Can eating insects save our Earth?”, 2016. Trailer dazu: YouTube (2 min 03 sek).

Bilder:
*Titelbild Ameisen: Puckel, Pixabay.
*Grillen auf Blatt: Monfocus, Pixabay.
*Streetfood: Heike Georg, Pixabay.
*Heuschrecken salat: kai62, Pixabay.
*Mehlwurm Lolli: Catch your bug.
*Bienen: PollyDot, Pixabay.
*Grafik: Bartz/Stockmar – Fleischatlas 2018. CC BY 4.0. https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9509134
*Skorpione am Spieß: bichvn, Pixabay.
*Ameise: Cyril, Pixabay.

NOMA Menü Fotos: Nordic Food Lab. Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License. 
*ants photo: Chris Tonnesen.
*Moth Mousse photo: Nowness.
*cricket broth photo: Wellcome Images.
*locusts photo: Nowness.
*whole hive.

 

 

 

 

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