Ähren lesen

Getreidefelder, eingebettet in romantische Landschaften, die Halme recken ihre Köpfe der Sonne entgegen, manchmal bauschen sich dramatisch dunkle Wolken am Himmel, die Ähren wogen mit dem Wind als würde eine luftige Welle durch das Feld rauschen.

Ruhige Landschaften, manchmal mit gemütlichen Spazierwegen, rote Mohnblumen, blaue Kornblumen, ein Vogelschwarm am Himmel – ja, so idyllisch sind Getreidefelder in der klassischen Malerei meistens dargestellt.

Aber wie landen diese schönen, zarten Ähren als Mehl oder Brot in der Küche? Wem gehören die Getreidefelder? Wer macht die Erntearbeit, schneidet das Korn? Was geschieht mit den Resten?

Diesen Teil der Realität konnte man bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf keinem Gemälde sehen – wollte man auch nicht. Und als es passierte, mon Dieu!, war es ein Skandal.

Diese Darstellungen erscheinen heutzutage vielleicht unspektakulär – aber zu ihrer Zeit lösten sie einen kleinen Skandal aus. Das Bild Die Ährenleserinnen wurde besonders heftig kritisiert. So etwas wollte man in den Kunstausstellungen und den feinen Salons der gehobenen Gesellschaft in Paris nicht sehen. Die Kritik daran wollte nicht abreißen.

Dieses Gemälde würde gar an die Galgen in der französischen Revolution erinnern! Damals kämpfte das Volk für bürgerliche Freiheitsrechte, für die Ideale der Aufklärung. Der Amtsadel, die höheren Stände und auch der Klerus genossen Privilegien, die Hauptlast der Steuern hatten Bauern und das einfache Volk zu tragen.

Würde man also auf derartigen Gemälden nicht eine Glorifizierung des einfachen Volkes sehen? Der arbeitenden Massen, die sich schon einmal gegen „die da oben“ erhoben hatten, zuletzt erst im Jahre 1848?

Diese sogenannten Ährenleserinnen hatten die offizielle Erlaubnis, auf den abgemähten Feldern die nach der Ernte übrig gebliebenen Ähren einzusammeln, eine recht mühevolle Handarbeit. Sie gehörten zu den niedersten sozialen Schichten, hatten keinerlei Grundbesitz – und waren auf die Reste der Großgrundbesitzer, der reichen Bauern, der herrschaftlichen Verwalter angewiesen.

Ist also so ein Gemälde nicht eine Werbung, ein Aufruf zur Unterstützung der gerade sich etablierenden sozialistischen Bewegung? Wird hier nicht am Status der oberen Gesellschaftsschichten gerüttelt? Die bestehende gesellschaftliche Ordnung in Frage gestellt? Hinter der Aufregung um solche Malereien verbargen sich also hoch politische Fragestellungen.

Das Thema des Ährenlesens kommt auch in der christlichen Bibel öfter vor. Man sollte am Feld einen Rest für „Fremden, die Waise und für die Witwe“ übriglassen, heißt es an mehreren Stellen im Alten Testament. Appelliert wird dabei an Mitgefühl und Verantwortung für die Gemeinschaft.

Aber bei den christlichen Darstellungen des Ährenlesens gibt es keine armen Bauern, keine arbeitende Klasse, die sich erheben könnte. Weit und breit ist niemand zu sehen, der stundenlang in gebückter Haltung Reste aufsammelt.

Die Gemälde der französischen Realisten im 19. Jahrhundert zeigten aber genau das: den mühevollen Alltag, die bäuerliche Armut, die harte Realität der Frauen und oft auch der Kinder, sich Tag für Tags ums Überleben zu kümmern zu müssen.

Und so etwas war mitten in den Galerien oder Salons in Paris, direkt vor der Nase der gehobenen Gesellschaft zu sehen! Keine Frage, Bilder wie Die Ährenleserinnen verursachten jede Menge Unbehagen.

Angeblich existiert zumindest in Frankreich immer noch das explizite Recht auf das Einsammeln von essbaren Ernterückständen. Die große Filmemacherin Agnès Varda hat dazu im Jahr 2000 einen Dokumentarfilm gemacht, Originaltitel Les glaneurs et la glaneuse (Die Ährenleserinnen und die Ährenleserin).

Hier zwei kurze Einblicke in den Film: YouTube (2m 48s) und dailymotion (6m). Beide in französischer Sprache – aber anhand des Bildmaterials sieht man sehr gut, worum es beim Ährenlesen geht.

Varda macht in ihrem Film dazu noch einen wunderbaren Bogen in die heutige Zeit. Sie zeigt die unterschiedlichsten Menschen beim Sammeln von Resten: Junge, Alte, Arbeitslose, Aktivisten, Sozialhilfeempfänger, die sich durch Mülltonnen wühlen, Reste auf Märkten einsammeln, weggeworfene Essensreste aufklauben, auf Feldern oder unter Obstbäumen nach Essbarem suchen, von Supermärkten aussortierte Lebensmittel verwerten – Realitäten des 21. Jahrhunderts.

ArtFood: Essen mit Kunst.

PS: Auch ein zeitgenössischer französischer Künstler hat sich dem Getreide, genauer gesagt dem Weizen gewidmet, nachzulesen bei ArtFood hier.


Infos & Quellen

Bilder:
*Titelbild: Alexa, Pixabay.
*Vincent van Gogh: Getreidefeld mit Mohnblumen, 1887. Wikipedia.
*Jacob Isaacksz van Ruisdael: Weite Landschaft mit Getreidefeldern, 1670er Jahre. Wikipedia.
*Jean-François Millet: Die Ährenleserinnen, 1857. Wikipedia.
*Getreidefeld Wolken: Peggychoucair, Pixabay.
*Weizenhalme: CANDICE CANDICE, Pixabay.
*Julius Schnorr von Carolsfeld: Ruth im Feld des Boaz, 1828. National Gallery London.
*Léon Augustin Lhermitte: Die Ährensammlerinnen, 1898. Wikipedia.
*Getreidehalme: Alexa, Pixabay.
*Jules Breton: Le Rappel des glaneuses, 1859. Wikipedia.

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