Falscher Hase? Falsche Auster!

„Auster, das einzige Weichtier, gegen das der Mensch eine fast schrankenlose Verehrung betätigt“, schreibt Robert Habs in seinem Appetitlexikon. Als Lebensmittel hat sie eine wechselvolle Geschichte vorzuweisen.

Bereits in der Antike, also bei den alten Griechen und Römern, wurden Austern als Delikatesse angesehen. Am römischen Kaiserhof wurden sie gerne roh als Vorspeise genossen. Aber auch gebraten oder in Pastetenform kamen sie auf den Tisch. Angeblich waren sie teilweise so wertvoll, dass ihr Gewicht in Gold gerechnet wurde.

Im 4. Jahrhundert nach Christi standen Austern sogar auf der Liste der erlaubten christlichen Fastenspeisen – eine relativ lange Liste übrigens, galt es doch an die 160 Fasttage pro Jahr zu bewältigen. Dann verliert sich das Wissen über Austern auf den Speisezetteln der Menschen für die nächsten 1000 Jahre.

Austern für die Reichen!
Zur Zeit der europäischen Renaissance orientierte man sich wieder ganz an den Errungenschaften der griechischen und römischen Antike. Da Austern mit der Mythologie der Antike verbunden sind, eroberten sie auch wieder Küche und Esstisch. „Ihr antiker Ruf als kulinarischer Luxus wie auch ihr hoher Status als Aphrodisiakum blühte in der Renaissance wieder voll auf.“ Von da an wurden Austern auch ein immer beliebteres Motiv in der Malerei.

Jean-François de Troy: Le déjeuner d’huîtres (Ausschnitt), 1735

Im Frankreich des 17. Jahrhunderts waren opulente Gelage in Schloss Versailles ohne Austern unvorstellbar. Insbesondere König Ludwig XIV schien eine ausgeprägte Vorliebe für Austern zu haben. Und seit etwa 1795 war ein Frühstück ohne Austern eine pure Unmöglichkeit. Vermehrt waren auch Berichte über Austern-Völlerei zu hören und zu lesen: „… ein gewiegter Esser mag deshalb 10-12 Dutzend zum Vorspiel hinunterschlürfen, ohne dadurch seinem Appetit auf die Hauptmahlzeit Abbruch zu tun. Der wahre Kenner indessen geht nie über 60 höchstens 72 Stück hinaus, denn mindestens mit dem sechsten Dutzend hört die Auster auf, ein Genuß zu sein.“

… und dann für die Armen
Interessanterweise waren Austern auch ein Arme-Leute-Essen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren die kleinen, weniger schönen Austern immer sehr billig zu haben.

Pieter Brueghel der Ältere: Die magere Küche; 1563

Pieter Brueghel der Ältere fertigte im Jahr 1563 einen Kupferstich mit dem Titel Die Magere Küche an: zu sehen ist eine Gruppe dünner, ausgemergelter Gestalten, die sich in einer einfachen Küche gierig um eine Schüssel mit Austern schart. Und Charles Dickens schrieb in seinem allerersten Roman Die Pickwicker im Jahr 1836: „Es ist bemerkenswert, dass Armut und Austern immer zusammengehören. Hier gibt es auf jedes halbe Dutzend Häuser eine Austernbude. Und ich meine, wenn jemand sehr arm ist, dann geht er aus dem Haus und isst Austern in echter Verzweiflung.“

Austern wurden also ein proletarisches Lebensmittel. Im 19. Jahrhundert mussten die einfachen Bürger und Arbeiter schauen, wie sie ihren Hunger stillen konnten. „Allenfalls reichte das Geld gerade noch für eine lächerliche Handvoll Austern. Ja, für Austern!“ (Josef Imbach). Das galt nicht nur in Europa: „… wie denn überhaupt die Auster in Nordamerika ein wirkliches Volksnahrungsmittel bildet, so daß die Tatsache, seit acht Tagen keine Auster gegessen zu haben, für ein Wahrzeichen tiefster Armut gilt.“ Für den Preis eines Hot Dogs bekam man genauso gut einen großen Teller Austern.

Engel hoch zu Ross und andere Köstlichkeiten
Austern werden meist roh genossen, genauer gesagt: lebend, „uncooked and unkilled … we eat it while it is still alive“. Oft wurde und wird jede Zubereitungsart für Austern abgelehnt: „Die feinen Sorten dagegen müssen durchaus roh mit Essig, Pfeffer oder Zitronensaft genossen werden; sie kochen, dämpfen, backen oder gar braten heißt sie zu entwürdigen“. Ungeachtet dieser puristischen Einstellung haben sich natürlich die unterschiedlichsten Rezepte entwickelt. Austern werden gegrillt, geräuchert, frittiert, gekocht, gedämpft, gebraten, in Dosen gesteckt, eingelegt und vieles mehr.


Im England es 15. Jahrhunderts wurden sie in einer Mischung aus Mandelmilch und Wein gekocht. Die Italiener haben sie dann in Pasteten gesteckt und die Franzosen im 17. Jahrhundert in Seezungen gestopft. Die Holländer haben angeblich um 1700 die in Sauerkraut gedämpften Austern erfunden. Und spätestens im 19. Jahrhundert ist für den englischsprachigen Raum ein Rezept für Angels on Horseback belegt: Austern werden mit Speck umwickelt und dann gegrillt oder frittiert.

Kalb als Auster
Und im Nachschlagewerk Die tüchtige Hausfrau aus dem Jahr 1913 findet sich neben einem Rezept für gebackene Austern auch Folgendes: „Falsche Austern: Von Butter und Zwiebel und dem Mehl macht man eine fette Einbrenne, gießt, wenn sie gut schäumt, die Brühe und die Sahne dazu, dann die gehackten Sardellen und das in Butter und Zwiebel gedünstete, gehackte Kalbfleisch nebst den übrigen Zutaten, läßt die Masse einmal aufkochen, füllt sie dann in butterbestrichene Muscheln und läßt sie im Ofen backen.“

PS: Ja, ich weiß, KEINE Rezepte habe ich bei About geschrieben. Aber hier konnte ich einfach nicht widerstehen.
PPS: Zur symbolischen Bedeutung von Austern nachlesen in Artfood: Noch eine Prise Salz, min Heer?


Infos & Quellen
*Robert Habs: Appetitlexikon. Ein alphabetisches Hand- und Nachschlagebuch über Speisen und Getränke. Zugleich Ergänzung eines jeden Kochbuchs; gekürzte Neuauflage Insel-Verlag 2015 (Ursprünglich Mitte/Ende 19. Jahrhundert).
*Felipe Fernández-Armesto: Food. A History; Macmillan 2001.
*Josef Imbach: Als die Armen Austern aßen; marix Verlag 2018.
*Charles Dickens: The Posthumous Papers of the Pickwick Club (auch bekannt als The Pickwick Papers).
*Antonie Steimann (Hg.): Die tüchtige Hausfrau. Ein praktisches Nachschlagebuch der gesamten Hauswirtschaft(Kochkunst, Putzmacherei, Hausschneiderei, Wäschenäherei, Kunststopferei, sämtlicher Handarbeiten, nebst nahezu 1000 erprobten Ratschlägen und einem neuen großen Kochlexikon für die sparsame Hausfrau), 2. Band: Die Küche; Stuttgart Süddeutsches Verlagsinstitut 1913.

Bilder:
*Austern mit roten Beeren: Free-Photos auf Pixabay.
*Austern: Bild von Yuna Kim auf Pixabay.
* Jean-François de Troy: Le déjeuner d’huîtres, 1735. Musée Condé De Chantilly. Wikipedia.
*Pieter Brueghel der Ältere: Die magere Küche; 1563. Wikipedia.
*Buchcover: Die Pickwickier. Wikipedia Project Gutenberg.
*Austern auf Salz: Bild von Free-Photos auf Pixabay.
*Angels on horse back: Wikipedia.

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