Von der Paßhöhe des Geschmacks in den Urwald des Fraßes

Fasten & Fressen, das sind die beiden Eckpunkte beim Essen. Und dazwischen? Liegt das weite Feld der Essgewohnheiten, der Esskultur, des eigenen Geschmacks, des täglichen Konsums und vieles mehr – kurz: die persönliche kulinarische Lebensweise.

Allerdings ist bei vielen Menschen das Vertrauen in die eigene kulinarische Expertise verloren gegangen: Was schmeckt mir? Was tut mir gut? Was brauche ich? Wie kann ich schnell eine Pasta-Sauce selbst zubereiten? Will ich wirklich Rohköstlerin sein, obwohl mir das ungekochte Zeug schwer im Magen liegt? Fühle ich mich wohl, wenn ich jeden Tag das Abendessen auslasse?

Zwischen Fasten & Fressen gilt es also, die „kulinarische Selbstbestimmung“ (Harald Lemke) zu fördern, zu fordern und auszubilden.

Das Thema Verzicht habe ich beim „Iss was Du willst Tag“ angesprochen. Diesmal geht es um das Gegenteil: welche Erfahrung kann mit Maßlosigkeit beim Essen verbunden sein? Der deutsche Philosoph und Kulturtheoretiker Walter Benjamin schrieb dazu folgendes „Denkbild“.

Walter Benjamin, ca. 1928

Ein Essay über das Essen

„Der hat noch niemals eine Speise erfahren,
nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt.
So lernt man allenfalls den Genuß an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen,
den Abweg von der ebenen Straße des Appetits,
der in den Urwald des Fraßes führt.

Im Fraße nämlich kommen die beiden zusammen:
die Maßlosigkeit des Verlangens und die Gleichförmigkeit dessen,
woran es sich stillt.

Fressen, das meint vor allem: Eines, mit Stumpf und Stiel.
Kein Zweifel, daß es tiefer ins Vertilgte hineinlangt als der Genuß.
So wenn man in die Mortadella hineinbeißt wie in ein Brot,
in die Melone sich hineinwühlt wie in ein Kissen,
Kaviar aus knisterndem Papier schleckt
und über eine Kugel Edamer Käse alles,
was sonst auf Erden eßbar ist, einfach vergißt.

Wie ich das zum ersten Male erfuhr?
Es war vor einer der schwersten Entscheidungen. Ein Brief war einzuwerfen oder zu zerreißen. Seit zwei Tagen trug ich ihn bei mir, seit einigen Stunden aber, ohne daran zu denken.

Denn mit der lärmenden Kleinbahn war ich durch die sonnenzerfressene Landschaft nach Secondigliano hinaufgefahren. Feierlich lag das Dorf in der Alltagsstille. …

Ich schlenderte betäubt meines Weges, da sah ich im Schatten einen Karren mit Feigen stehen. Es war Müßiggang, daß ich drauf zuging, Verschwendung, daß ich für wenige Soldi mir ein halbes Pfund geben ließ. Die Frau wog reichlich.

Als aber die schwarzen, blauen, hellgrünen, violetten und braunen Früchte auf der Schale der Handwaage lagen, zeigte es sich, daß sie kein Papier zum Einschlagen hatte. Die Hausfrauen von Secondigliano bringen ihre Gefäße mit und auf Globetrotter war sie nicht eingerichtet. Ich aber schämte mich, die Früchte im Stich zu lassen.

Und so ging ich, Feigen in den Hosentaschen und im Jackett, Feigen in beiden vor mich hingestreckten Händen, Feigen im Munde, von dannen. Ich konnte jetzt mit Essen nicht aufhören, mußte versuchen, so schnell wie möglich der Masse von drallen Früchten, die mich befallen hatten, mich zu erwehren.

Aber das war kein Essen mehr, eher ein Bad, so drang das harzige Aroma durch meine Sachen, so haftete es an meinen Händen, so schwängerte es die Luft, durch die ich meine Last vor mich hintrug.

Und dann kam die Paßhöhe des Geschmacks, auf der, wenn Überdruß und Ekel, die letzten Kehren, bezwungen sind, der Ausblick in eine ungeahnte Gaumenlandschaft sich öffnet: eine fade, schwellenlose, grünliche Gier, die von nichts mehr weiß als vom strähnigen, faserigen Wogen des offenen Fruchtfleisches, die restlose Verwandlung von Genuß in Gewohnheit, von Gewohnheit in Laster.

Haß gegen diese Feigen stieg in mir auf, ich hatte es eilig aufzuräumen, frei zu werden, all dies Strotzende, Platzende von mir abzutun, ich aß, um es zu vernichten. Der Biß hatte seinen ältesten Willen wiedergefunden.

Als ich die letzte Feige vom Grund meiner Tasche losriß, klebte an ihr der Brief. Sein Schicksal war besiegelt, auch er mußte der großen Reinigung zum Opfer fallen; ich nahm ihn und zerriß ihn in tausend Stücke.“

Nach den Überlegungen von Walter Benjamin gelangt man mit der Gier nach einem bestimmten Lebensmittel „tiefer ins Vertilgte“ als mit dem Genuss. Eine Speise, einen Geschmack, lernt man also erst vollständig durch die Maßlosigkeit beim Essen richtig kennen. Und nach der „Paßhöhe des Geschmacks“ kommen Überdruss und Ekel, Genuss wird Gewohnheit und daraus schließlich ein Laster. Letztlich isst man, „um es zu vernichten“.

In der westlichen christlichen Kultur ist diese Maßlosigkeit beim Essen ja durchgehend negativ angesehen. Von Genuss – und sei es nur ausnahmsweise – ist da weit und breit keine Rede.

Im Gegenteil: das üppige und unmäßige Essen bzw. Trinken, die sogenannte Völlerei, gilt als eines der Sieben Hauptlaster, aus denen unter anderem die Todsünden hervorgehen. Und die Strafen dafür sind happig: Verbannung in die Hölle und das Erleiden ewiger Schmerzen.

Ab dem 17. Jahrhundert konnte die Völlerei ihr negatives Image langsam ablegen. Insbesondere im Barock wurde gutes Essen ein Distinktionsmerkmal, man nannte es dann gerne „Feinschmeckertum“ oder „Schlemmerei“. Und doch finden sich in unserem Sprachgebrauch bis heute Phrasen wie „Das ist eine Sünde wert“ oder auch „Muss Essen Sünde sein?“. Denn im 21. Jahrhundert ist die Maßlosigkeit beim Essen unter dem Diskurs von Selbstoptimierung oder Gesundheit erneut in schiefes Licht geraten.


Infos & Quellen
*Walter Benjamin, 1892-1940: Wikipedia.
*Essay „Essen“ in: Gesammelte Schriften Band IV 1, S. 374f.
*Harald Lemke: Über das Essen. Philosophische Erkundungen; Wilhelm Fink Verlag 2014.

Bilder:
*Tafel: Prawny, Pixabay.
*Portraitfoto Walter Benjamin: Wikimedia.
*Feigen: Hans, Pixabay.
*Feigen offen: Couleur, Pixabay.
*Georg Emanuel Opiz: Der Völler, 1804. Wikipedia.
*Jakob Matham (1571–1631): Gula (Die Völlerei), Kupferstich um 1600. Anthrowiki.

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