Über das Essen. Philosophische Erkundungen II. Gutes Leben einkaufen

Was ich hier bei ArtFood immer betone: welche vielfältige Bedeutung Lebensmittel, essen und Mahlzeiten abseits der aktuellen Diskussion um Gesundheit, Lifestyle und Selbstoptimierung haben.

Dabei ist mir die Gastrosophie als Philosophie von Lebensmittelproduktion und Esskultur ein denkerischer Leitfaden.

Dieses Posting ist Teil einer losen Reihe im ArtFood_BookStudio, in deren Rahmen ich unter anderem folgendes Buch vorstelle: Harald Lemke: Über das Essen. Philosophische Erkundungen. Heute also Kapitel 2, Teil 1.

Kapitel 2 Einkaufen. Ist Moral käuflich? Gutes Leben einkaufen mit Sokrates.
„Alle tun es. Mehrmals täglich sogar. Nur wie und wo?“ Dieses Kapitel geht der Frage nach, wie der tägliche Einkauf von Lebensmitteln für „eine möglichst gute Lebenspraxis von erheblicher Bedeutung ist“. Im Mittelpunkt steht die philosophische bzw. gastrosophische Dimension des täglichen Gangs zum Supermarkt, Bauernmarkt, Fleischer, Gemüsehändler etc.

Sokrates und ein paar seiner Zeitgenossen waren so ziemlich die Ersten, die sich in der westlichen Philosophie ausführlich über Qualität sowie Herkunft der täglichen Lebensmittel Gedanken machten. Wo genau wurde ein Tier gezüchtet? In welcher Bucht gedeiht welche Fischart am besten? Woher kommt ein bestimmtes Gemüse? Stammen die Austern am Markt vielleicht aus künstlicher Züchtung?

Darüber sollte man sich auch Gedanken machen und „bei der Auswahl von Lebensmitteln [den] Verstand verwenden und vernünftige Entscheidungen treffen.“ Beim täglichen Einkauf sollte es also nicht nur darum gehen, was man gerne isst. Sondern auch um die ethische Frage, was ein gutes Leben ausmacht und was das ganz praktisch im Alltag bedeutet.

Aber nach Sokrates ist in der westlichen Philosophie dann für viele Jahrhunderte vorerst Schluss mit dem Nachdenken über das Einkaufen und Essen und welche Folgen das tägliche Konsumverhalten hat.

Für Harald Lemke ist die Diskussion dieser Fragen dringender denn je: woher kommt ein Lebensmittel? Wie wurde es produziert? Welche ökologischen oder auch sozialen Bedingungen stehen dahinter? Welche Transportwege legte es zurück?

Dabei geht es nicht um theoretische Überlegungen, im Gegenteil. Denn der „Zweck des Lebensmittelkaufs ist es, gut zu handeln, also möglichst Gutes zu tun und das Richtige zu kaufen; nicht weniger, aber auch nicht mehr!“

In Teufels Küche?
Auf den Märkten, insbesondere in den großen Supermärkten, finden wir eine nie dagewesene Fülle und Vielfalt an Produkten. Die Verfügbarkeit einer üppigen Auswahl an Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen ist eine „tägliche Erfahrung eines kleinen Glücks und ein Stück Guten Lebens.“

Lemke sieht diese Vielfalt als Symbol für die „gesamtgesellschaftliche Verbreitung eines relativen Wohlstands und eines damit einhergehenden Genusslebens.“

Warum also sollte das schlecht sein? Menschen hatten schon immer Vergnügen daran, es sich gut gehen zu lassen. Und jahrhundertelang waren Schlemmereien und volle Tische einer wohlhabenden Minderheit vorbehalten. Warum „sollen auf einmal die gleichen Handlungen, die wir schon seit ewigen Zeiten verrichten, moralisch verwerflich sein und uns in Teufels Küche bringen?“

Genau diesen paradoxen Sachverhalt gilt es mithilfe der Gastrosophie zu verstehen und zu überwinden.“

Was bedeutet das?
Immer mehr Menschen, immer mehr benötigte Ressourcen, immer technischere Produktion, immer weitere Transportwege, größere Mengen an Essen und gleichzeitig mehr Lebensmittelabfall denn je – aus diesen und anderen Gründen entwickelte sich nach Lemke „unser Konsumverhalten und unser tägliches Essen zu einer Katastrophe größten Ausmaßes.“

Und er sieht die Ursache dafür insbesondere in „unintelligenten Produktionsweisen“. Dahinter stehen im Allgemeinen industrielle Interessen, bestimmte Politiken oder auch Lobbygruppen. „Die vielseitigen politischen Beziehungen zwischen Lebensmittel und Wohlleben, Geld und Moral, Richtig und Falsch, die durchs Einkaufen entstehen, gehören zu den veritablen Angelegenheiten einer philosophischen Ethik oder Gastrosophie.“

Kaufen oder nicht kaufen – das ist hier die Frage
Welches Lebensmittel soll man nun auswählen? Sind diese Erdbeeren pestizidbelastet? Wie viele Transportkilomeer hängen an diesen Mandeln? Wurden die Artischockenbauern gerecht entlohnt? Welches Vanillejoghurt hat weniger Zucker? Ist Thunfisch nicht vom Aussterben bedroht? Wieso gibt es nur fünf Sorten Äpfel im Supermarkt?

Ja, es ist scheinbar kompliziert. Daher funktionieren auch Kaufempfehlungen der Hersteller bzw. Werbebotschaften so gut. Verkauft wird Bequemlichkeit, Gesundheit, Freizeit, Spaß, Leichtigkeit. „Am Ende scheint es das Leichteste, irgendwas zu wählen, weil es am bequemsten ist.“

Aber mit der Möglichkeit, aus der Vielfalt zu wählen, geht gleichzeitig die Möglichkeit einher, ein bestimmtes Lebensmittel NICHT zu kaufen. Sei es wegen seiner Produktionsweise, der überflüssigen Plastikverpackungen, der Transportkilometer oder wegen seiner langen Liste an Zusatzstoffen – und vieles mehr.

Möge die Macht mit dir sein!
Interesse an den Hintergründen bzw. am Enstehungsprozess einzelner Produkte führt zu Wissen – und Wissen ist Macht. Nämlich die „Macht unserer Kaufentscheidungen“. Lemke meint, dass „einkaufen zu gehen, gesellschaftlich sogar wirksamer sein kann, als zu politischen Wahlen zu gehen.“

Für ihn ist die bewusste Auswahl oder eben Ablehnung eines Lebensmittels eine Art von „Herrschaftsausübung“ mittels derer das „Konsumentenvolk“ über Erfolg oder Misserfolg von Produkten entscheidet. Das heißt, mit einer alltäglichen Handlung wie dem Einkaufen im Bauern- oder Supermarkt, beim Fleischer oder in der Bäckerei beeinflussen wir die Strukturen, Möglichkeiten und Grenzen des globalen Wirtschaftslebens.

Und nun?
Es geht also darum, über das eigene Einkaufsverhalten nachzudenken, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu sein – aber auch der Macht und der ethischen Aspekte, die mit jeder einzelnen Entscheidung, etwas zu kaufen oder eben nicht, verbunden sind.

Der bewusste tägliche Einkauf von Lebensmitteln ist somit Teil eines guten Lebens. Dazu zählt beispielsweise auch, „für ein Liter Motoröl für ihr Auto“ nicht mehr auszugeben „als für das Salatöl, das sie sich selbst einverleiben.“

Und bevor zu viele Bedenken auftauchen: „Es ist gar nicht notwendig, sich in jeder Situation und unter allen Umständen von guten Lebensmitteln zu ernähren, um das eigene Essen und die restliche Welt zu verbessern.“ Man soll sich bei den eigenen Abwägungen von keinem „moralischen Rigorismus“ einschüchtern lassen.

Es geht schlicht und einfach um die „Tatsache, dass wir tagtäglich zu dieser Verbesserung beitragen können – beispielsweise in dem wir im Supermarkt Gutes tun. So häufig und so gut es geht.“

Lemke Kapitel 2 Teil 1 Ende 🙂

ArtFood: Essen mit Kunst.

PS: Den ersten Teil findet ihr hier: Über das Essen. Philosophische Erkundungen I. Teil III hier.


Infos & Quellen
*Harald Lemke: Über das Essen. Philosophische Erkundungen; Wilhelm Fink Verlag München; 2014.

Bilder:
*Raffael: Schule von Athen, 1510/1511. Wikipedia.
*Marktfoto: Alice Schmatzberger.
*Sokrates: fszalai, Pixabay.
*Karotte: klimkin, Pixabay.
*Platter: 지원 , Pixabay.
*Treibhäuser: Hans, Pixabay.
*Markthalle: Rene Staempfli, Pixabay.
*Supermarkt: Alexa, Pixabay.

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