Über das Essen. Philosophische Erkundungen I
Schon bei About und auch in einigen Postings hier habe ich die Gastrosophie erwähnt. Gastrosophie ist, einfach gesagt, eine Philosophie, die sich mit Fragen rund ums Essen beschäftigt.
Vor der Sommerpause liefert ArtFood hier noch ein wirklich großes Tablett voll Gastrosophie-Gedanken-Food.
Wozu eine Philosophie, die sich mit dem Essen beschäftigt?
Warum schreibe ich hier bei ArtFood über Heilige Zitronen, über das Fressen, dem Manet seinen Spargel, über politisches Getreide und kriegerische Artischocken, über den saufenden Bohnenkönig, Literaturwürste oder eine Bibliothek für Sauerteig?
Weil ich der Ansicht bin, dass diese wunderbare, breit gefächerte Kunst und Kultur rund um Essen & Trinken in letzter Zeit etwas verloren gegangen ist. Zu oft wird Essen nur als Ernährung und zudem in einer Gemengelage aus Schuld, Lifestyle, Moral, Weltanschauung, Krankheit oder auch Selbstoptimierung betrachtet.
Essen & Trinken bedeutet jedoch auch ganz Anderes: Genuss, Entdeckung, Gewohnheit, Heimat, Entspannung, Erinnerung, Trost, Mittel gegen Frust oder Langeweile, Begleiter guter Gespräche und vieles mehr.
Die Gastrosophie als angewandte Philosophie vom Essen & Trinken macht dieses Themenfeld noch deutlich weiter auf: die philosophischen Fragen befassen sich beispielsweise mit ökologischen bzw. sozialen Bedingungen beim Anbau von Lebensmittel, mit Aspekten rund um die Lebensmittelherstellung und den Konsum, aber auch mit unserer täglichen individuellen kulinarischen Praxis. Gastrosophie beinhaltet also auch ethische sowie politische Dimensionen und Konsequenzen aus unserem Einkaufsverhalten, Kochen und Essen.
Dieses Posting ist der erste Teil einer losen Reihe im ArtFood_BookStudio, in deren Rahmen ich folgendes Buch Kapitel für Kapitel vorstellen werde: Harald Lemke: Über das Essen. Philosophische Erkundungen. Heute das erste Kapitel.
Kapitel 1: In aller Munde. Der Mensch ist, was er isst.
Lemke beginnt seine Erkundungen zur Gastrosophie mit einem Blick auf die Geschichte: woher kommt dieser Begriff? Wann wurde er von wem und mit welcher ursprünglichen Absicht verwendet?
Woher kommt die Gastrosophie?
Ich erwähne die folgenden Namen hier, weil sie im Zusammenhang mit Gastrosophie immer wieder mal auftauchen und so hat man sie zumindest schon mal gehört und kann sie ein wenig einordnen.
Gleich die erste Person, die Harald Lemke nennt, war mir gänzlich unbekannt: ein gewisser Charles Fourier, seines Zeichens französischer Philosoph und Utopist. Er hat sozusagen den Begriff „Gastrosophie“ erfunden und ihn ca. im Jahr 1820 erstmals verwendet. Er suchte nach einem Wort, das die „philosophische Gesamtdimension des menschlichen Ernährungsverhaltens“ abdeckt. Gleichzeitig musste die Abgrenzung zum Gastgewerbe, also zur Gastronomie sowie zum Lebensmittelhandel klar sein. Gastrosophie war also sein Begriff dafür, die gesamtgesellschaftliche Dimension von Essen zu reflektieren.
Ziemlich zeitgleich war Carl-Friedrich von Rumohr tätig, ein deutscher Kunsthistoriker, Kunstsammler, Schriftsteller, Agrarhistoriker und vieles mehr. Er hat den Begriff Gastrosophie zwar nie verwendet, aber für Lemke ist er „der eigentliche Klassiker der Gastrosophie“, der „erstmalig in der europäischen Kulturgeschichte eine Theorie der Kochkunst und Esskultur entwickelt“ hat.
1822 erschien sein Buch „Geist der Kochkunst“. Hier ging es wirklich um das systematische Nachdenken über Ernährung, Küche und Esskultur, inklusive möglicher politischer und ethischer Dimensionen. Er propagierte beispielsweise einen Fokus auf Verwendung heimischer bzw. regionaler Produkte zu legen – ein Ansatz, der sich auch der modernen Slow Food Bewegung wiederfindet.
Im Zusammenhang mit der Gastrosophie wird auch der Name Jean-Anthelme Brillat-Savarin oft genannt. Er war eigentlich Richter von Beruf, ist aber bis heute mit seiner 1826 erschienenen Schrift „Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen“ bekannt. Seine Beobachtungen und Kommentare sind allerdings weniger philosophischer Natur. Man könnte sein Werk auch als „Betrachtungen eines Feinschmeckers, eines Gourmets“ bezeichnen, eine Sammlung von persönlichen Überlegungen zum Essen.
Lemke nennt noch zwei weitere Personen: Gustav Blumröder alias Antonius Anthus, ein Arzt, der 1838 „Vorlesungen über die Esskunst“ hielt und komplett in Vergessenheit geraten ist. Die Titel seiner insgesamt 12 Vorlesungen hören sich spannend an, da geht es beispielsweise um das „Verhältniß der Eßkunst zu den anderen schönen Künsten“, um moralische Beziehungen, das „Prinzip der Eßkunst“ oder um „Spezielle Eßbarkeiten (Genug Stoff also für weitere Postings zum Thema).
Und last not least: Eugen Baron von Vaerst, preußischer Offizier, Schriftsteller und Theaterdirektor. Er verwendete als Erster den Begriff Gastrosophie in einem Buchtitel, seinem 1851 erschienenen Werk: „Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel“. Nach Lemke handelt es sich dabei allerdings nur um eine Sammlung von Sprichwörtern und Anekdoten, nicht aber um philosophische Reflexionen zum Thema Essen.
→Fazit:
Was fällt hier auf? Das westliche philosophische Nachdenken über etwas so Essentielles wie Essen & Trinken ist vor dem 19. (!) Jahrhundert so gut wie nicht vorhanden. In den letzten 2000 Jahren drehte sich in der europäischen Philosophie alles um den Verstand. Der Geist zählte mehr als der Körper. Der schnöde Alltag mit Essen, Trinken, Verdauen, Sex spielte nicht nur keine Rolle, sondern wurde als minderwertig, als eines Nachdenkens nicht würdig erachtet.
Eigentlich ein denkerischer Skandal, über den in einem späteren Posting noch genauer zu berichten sein wird.
Auch die hier erwähnten Denker und Schriftsteller hinterließen quasi keine Spur in der Philosophie ihrer Zeit – nicht im akademischen Diskurs, nicht im gesellschaftlichen Gespräch, nicht in den Zeitungen, nada.
Allerdings gibt es eine Ausnahme: Ludwig Feuerbach. Also weiter im Kapitel 1 von Harald Lemkes Über das Essen. Philosophische Erkundungen.
„Der Mensch ist, was er isst.“
Das ist wohl eines der bekanntesten Zitate zum Thema Essen. Es stammt Mitte des 19. Jahrhunderts von Ludwig Feuerbach, einem deutschen Philosophen und Privatgelehrten, der aufgrund seiner revolutionären Ansichten keine offizielle Anstellung fand, aber aufgrund einer reichen Heirat darauf auch nicht angewiesen war. Er war Anhänger der Demokratie, was politischen Widerstand bedeutete, er war kritisch der Religion gegenüber, seine Schriften waren teilweise verboten.
Kein Wunder, stellte er doch fest, dass der Mensch Gott bloß erfunden hat. Mon Dieu! Mit dieser „radikalen Kritik an der christlichen Religion“ trat er für einen „praktischen Humanismus“ ein. Der Mensch würde demnach für sein eigenes Leben selbst Verantwortung tragen.
Nach 2000 Jahren philosophischer Geschichte ohne Essen und Trinken entwickelte dieser Denker eine neue Philosophie: eine „Weisheitslehre nur“ vom Essen und Trinken, welche „die Wahrheit der Sinnlichkeit mit Freuden, mit Bewusstsein anerkennt.“
Seine umfassende „Philosophie der Zukunft“ bezieht explizit den Körper, das Leibliche mit ein. Er begreift den Menschen ganz bewusst als fühlendes, sinnliches Wesen. „… ja der Leib in seiner Totalität ist mein Ich.“
Die Essistenz
Mit seinen revolutionären Überlegungen beginnt ein neues gastrosophisches Denken. Dabei geht es nicht um eine banale Feststellung wie: der Mensch lebt, weil er isst. Sondern um die Bedeutung von Essen, von lustvoller Sättigung und Genuss für ein geglücktes Leben. Und für das geglückte Leben übernimmt man selbst die Verantwortung. Zu einem erfüllten Dasein gehört für ein sinnliches Wesen wie den Menschen dann auch ein gefüllter Magen.
Essen zu sich zu nehmen – und dieses auch zu verstoffwechseln – ist unabdingbar dafür, dass der Geist arbeiten kann. Ohne Essen keine Existenz, kein Denken. Feuerbach stellt dazu unter anderem fest: “Der Anfang der Existenz ist also die Ernährung, die Nahrung also der Anfang der Weisheit. Die erste Bedingung, dass du etwas in dein Herz und deinen Kopf bringst, ist, dass du etwas in den Magen bringst.“ Und Harald Lemke: „Zum Wesen, zur Essenz der menschlichen Existenz gehört die Essistenz.“
→Fazit:
Der Satz „Der Mensch ist, was er isst.“ wird oft nur auf das Körperliche bezogen. Das ist nicht falsch, es ist allerdings nur ein Teil der Feuerbach´schen Philosophie.
Rund um diese Kernaussage entwickelte er ein umfassendes philosophisches Gedankengebäude, das auch Überlegungen zur Ethik beinhaltet. Der Mensch hat das „ethische Bestreben … „glücklich“ und „gut leben“ zu wollen.“ Gemäß Lemke mussten für Feuerbach „eine philosophische Ethik und das menschliche Streben nach dem Glück eines guten Lebens auf jeden Fall das alltägliche Glück eines guten Essens beinhalten.“ Denn so konstatiert Feuerbach: „Esist nicht unmoralisch, Gutes zu essen.“
Worin genau das Ethische oder Moralische beim Essen liegt, beantwortet Feuerbach nicht mehr. Wesentlich sind seine Überwindung der unseligen Trennung von Körper und Geist in der westlichen Philosophiegeschichte sowie seine Erkenntnisse zur Bedeutung des Essens.
Nachdenken über das Essen und Trinken
Diese Erkenntnisse Feuerbachs beinhalten für Lemke „weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und unseres Daseins.“
„Die Menschen sind in ihrem Dasein zu einem beträchtlichen Teil mit dem Essen beschäftigt; fast alles dreht sich darum: um den Anbau von Lebensmitteln und um die unzähligen Dinge ihrer Verarbeitung und Zubereitung ebenso wie um deren weltweiten Transport und Handel, außerdem um damit verbundene politische und rechtliche Fragen ebenso wie um ihren täglichen Konsum und Genuss, und nicht zuletzt um ihre physisch und geistige Verdauung und Bekömmlichkeit. Die Allgegenwärtigkeit und Essentialität des Essens zu begreifen und zu einem philosophischen Anliegen von höchstem Rang zu erheben, ist der gastrosophische Sinn des markanten Satzes: Der Mensch ist, was er isst.“
„Um die Zukunft eines guten Essens für alle möglich zu machen, scheint nichts notwendiger als eine grundlegende Veränderung unserer aktuellen Essistenz, die die planetarische Nahrungskrise, auf die wir wohl zurasen, verursacht. Von dieser dringlichen Ernährungswende würden in der Tat weitreichende Auswirkungen auf die Welt und die Menschheit, auf unseren Geist und seinen Körper, auf Politik und Gesellschaft ausgehen … Denn alles an unserer gegenwärtigen Esskultur und ihren Bestandteilen bedarf einer Generalüberholung.“
Lemke Kapitel 1 Ende 🙂
Mein philosophischer Big Bang
Jahrelang hatte ich aus einem mir unerfindlichen Grund das Bedürfnis, mich mit Philosophie zu befassen bzw. mich in Grundzügen auszukennen – das ist mir jedoch nie gelungen. Die sogenannten alten Griechen konnte ich noch verstehen, aber so ziemlich alles an Philosophie, was danach kam, nicht mehr. Für mich war das wie eine Fremdsprache, eine Art Geschwurbel, das nichts mit dem Alltag der zeitgenössischen Menschen oder meinen eigenen Lebensrealitäten und Überlegungen zu tun hatte.
Umso mehr freut es mich, dass ich im Zuge der Recherchen in den letzten Jahren für ArtFood quasi zufällig über die Gastrosophie gestolpert bin. Neben meiner Expertise im Lebensmittelbereich sowie in der Kunstgeschichte habe ich in der Gastrosophie eine ganz wesentliche Ergänzung zu meinem Thema bzw. meinem Anliegen mit ArtFood gefunden.
Und Harald Lemke gelingt es aus meiner Sicht wunderbar, die Gastrosophie als angewandte Philosophie vom Essen und Trinken begreifbar zu machen. Und das in einer verständlichen Sprache des 21. Jahrhunderts. Er zeigt die ganze Bandbreite des Themenfeldes – vom Anbau über den Einkauf und das Kochen bis zur Verdauung und Entsorgung – sowie die damit verbundenen Fragestellungen und Konsequenzen des Handelns. Diese Dimensionen bewusst zu machen, erachte ich als wichtig.
In diesem Sinne werde ich mich in den kommenden Monaten durch dieses Buch arbeiten und in unregelmäßigen Abständen die nächsten einzelnen Kapitel hier weiter besprechen. Teil II hier, Teil III hier.
ArtFood: Essen mit Kunst.
Infos & Quellen
*Harald Lemke: Über das Essen. Philosophische Erkundungen; Wilhelm Fink Verlag München, 2014.
Bilder:
*Raffael: Die Schule von Athen, 1510/11. Wikipedia.
*Alle Portraitbilder: Wikipedia.
*Buch Feuerbach: Zeno.
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